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RPlus | Herdenstrukturen wissenschaftlich erfassen
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Soziometrische Kenngrößen und Soziogramm

 

Die Pferdeherde ist ein hochkomplexes soziales Gefüge, welches nicht einfach mit einer linearen Hierarchieskala beschrieben werden kann. Es gibt nicht „das“ eine Alphapferd, den sagenumwobenen Leithengst oder die Leitstute, welches die Herde anführt und welchem alle anderen bedingungslos folgen. Vielmehr ist die Herde ein Beziehungsgeflecht. Um dieses Beziehungsgeflecht so gut wie möglich zu verstehen und daraus Schlüsse für die Gruppenhaltung von Pferden ziehen zu können, müssen viele verschiedene Aspekte der Herdenstruktur zueinander in Beziehung gesetzt werden. Nur wenn die Herde sowohl in ihrer Zusammensetzung als auch in ihren Interaktionen betrachtet wird, kann – wissenschaftlich gesehen – über den Grad der Harmonie oder das Konfliktpotential in der Gruppe geschlossen werden.

Mehr als Dominanzbeziehungen

 

Es geht in der Pferdeherde also nicht allein um Dominanzbeziehungen, es geht vielmehr um Freundschaften und allgemeine Marker darüber, ob die Kommunikation und der Zusammenhalt innerhalb der Herde funktionieren. Standardisierte soziometrische Methoden helfen Ethologen dabei das Gesamtbild des sozialen Gefüges der Pferdeherde besser zu erfassen. Einige davon möchten wir hier in RPlus im weiteren Verlauf vorstellen, da es für uns ein entscheidender Faktor ist, dass sich das Pferd mit dem wir uns beschäftigen in seiner Gruppe wirklich wohlfühlt. Um das beurteilen zu können, reicht es nicht einen kurzen Blick auf die Tiere zu werfen und Behauptungen über den sozialen Status einzelner aufzustellen. Das Gesamtbild ergibt sich erst wenn man den Fokus auf die Details richtet.

Warum überhaupt eine etablierte soziale Struktur?

 

Pferde leben miteinander in unterschiedlich großen Gruppen. Je nach Region, ökologischen Bedingungen und persönlichen Vorlieben leben sie in kleinen Familienverbänden oder Junggesellengruppen zusammen und können sich bei Bedarf zu größeren Herden zusammenschließen. Innerhalb dieser Kleingruppen kann es wiederum exklusive Paarbeziehungen geben, sogenannte Pair-bonds. Ebenso gibt es eine Wechselwirkung und soziale Struktur zwischen den einzelnen Familienverbänden, wenn man die Gesamtherde in der Natur betrachtet. Pferde lernen sich, wenn sie neu zusammengeführt werden, untereinander intensiv kennen. Bleibt die Gruppenzusammensetzung über einen längeren Zeitraum stabil, so verringern sich sämtliche aggressive Handlungen signifikant. Jedes Pferd weiß gewissermaßen wo es innerhalb der Gruppe steht und wie welches andere Herdenmitglied tickt.

Moderne Pferdehaltung

 

Passen die Pferde in unseren Pferdehaltungen allerdings nicht besonders gut zueinander oder gibt es sehr viele Wechsel, so führt dies zu einem immensen Stress für die Tiere, der sich wiederum auch in einer höheren Infektionsanfälligkeit und Verletzungsrisiko widerspiegelt. Wir entscheiden mit unseren Entscheidungen für einen bestimmten Offenstall oder die Häufigkeit der Stallwechsel in welchem Umfeld unser Pferd lebt. Dabei ergeben sich je nach Gruppengröße, Geschlechterverhältnis oder auch Altersstrukur der einzelnen Tiere ganz unterschiedliche mögliche Konstellationen und mehr oder weniger Interaktionsmöglichkeiten für jedes einzelne Tier.

Genau genommen…

 

Um die Arbeit eines*einer Ethologin etwas zu illustrieren und zu erwähnen, dass es sich dabei eben nicht um kurze Beobachtungen und sofortige Interpretationen handelt, möchte ich hier über ein Modell zur Untersuchung der Position eines einzelnen Individuums betrachten.

Die Rolle der Dyaden

 

Um einen „Rangplatz“ (dieser ist ausdrücklich nicht linear zu verstehen, sondern als Position im Beziehungsgeflecht) zu berechnen, brauchen wir einen sehr großen Beobachtungszeitraum. Denn es müssen quasi alle denkbaren Konstellationen erfasst werden. Es ist wichtig für Pferde zu wissen, wer mit wem was macht. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die sogenannten Dyaden, also alle denkbaren Zweierkonstellationen einer Herde. Ein Rechenbeispiel: Bereits bei einer 20 köpfigen Pferdeherde gibt es pro Pferd 19 mögliche Interaktionspartner*innen. Daher können wir 19 * 20 rechnen und die Summe dann durch 2 teilen (weil es ja egal ist ob wir eine Paarung AB nennen oder BA). Es ergeben sich also in einer Herde aus 20 Pferden 190 mögliche Dyaden. Bei einer Herde aus 10 Tieren immer noch 45 Zweierkonstellationen und bei einer 30-köpfigen Herde gar 435.

Hochsoziale Lebewesen

 

Nicht nur wir Forscher*innen müssen also eine sehr große Anzahl an möglichen Dyaden erfassen, auch die Tiere müssen die Zeit haben sich untereinander intensiv kennenzulernen. Je größer die Gruppe und je häufiger der Wechsel der Tiere, desto aussichtsloser wird es aus Sicht des Pferdes die anderen Tiere überhaupt genau kennenlernen zu können. Das einzelne Pferd braucht also nicht nur das Wissen darüber, wie es direkt zu einem anderen Pferd steht, sondern ebenso darüber wie das Gegenüber wiederum mit einem anderen interagiert. Pferde sind nämlich als hochsoziale Wesen auch besonders gute Beobachter*innen, wie sich ihre Herdenmitgliedern anderen gegenüber verhalten oder welche Sympathien zwischen verschiedenen Individuen gepflegt werden. Etwa nach dem Motto; Pferd A mag die Tiere B und C sehr gerne, aber B und C können sich überhaupt nicht ausstehen. Solche schwierigen Konstellationen kennen wir Menschen auch aus unserem eigenen sozialem Umfeld und sie beeinflussen wiederum unsere direkte Beziehung zu diesen Mitmenschen.

Komplexe Strukturen erfassen

 

Um die Gruppenstruktur analysieren zu können, brauchen wir den Blick auf die Zweierbeziehungen (Dyaden), also wer gegenüber wem häufiger dominantes oder subdominantes Verhalten zeigt, wir brauchen darauf aufbauend den Blick auf die Gesamtgruppe, bei der wir die Stärke des Zusammenhalts betrachten können oder den Grad der Vernetzung, um daraus wiederum auf das Individuum Rückschlüsse ziehen zu können. Nur über diesen Weg können Aussagen darüber getroffen werden, wie verwurzelt ein einzelnes Pferd in seiner Gruppe ist und wie wohl es sich mit den anderen fühlt.

Struktur durch Soziogramme

 

Um die Struktur einer Pferdeherde bildlich verdeutlichen zu können, kann man diese als sogenanntes Soziogramm darstellen. Soziogramme sind graphische Darstellungen, auf denen die Beziehungen einzelner Gruppenmitglieder zueinander durch Pfeile und Positionen in Beziehung gesetzt werden. So abgebildet kann der*die Verhaltensforscher*in sich schnell einen Überblick verschaffen, wie komplex das Beziehungsgeflecht einer bestimmten Pferdegruppe aussieht. Daraus lassen sich Rückschlüsse ziehen – etwa auf einen hohen Grad der Integration sämtlicher Herdenmitglieder oder aber auf mögliches Mobbing einzelner Pferde gegenüber bestimmten Tieren.

Vier verschiedene Beziehungsarten

 

Dazu betrachten Forscher*innen die Herde unter anderem auf der Ebene eben dieser Dyaden und erfassen sowohl deren agonistische als auch deren freundschaftliche Verhaltensweisen. Soziometrisch kann man so vier verschiedene Beziehungsarten der einzelnen Dyaden unterscheiden:

1) Unbekannte Beziehungen

 

Unbekannte Beziehungen sind solche, in denen gar keine sichtbaren Interaktionen stattfinden, manche Tiere ignorieren sich einfach gegenseitig und scheinen überhaupt kein Interesse aneinander zu haben. Es kann aber auch der Fall sein, wenn die Gruppe zu groß oder so wenig zusammengewachsen ist, dass einzelne Tiere quasi einfach neben anderen her leben ohne sie wirklich zu kennen oder eine Gemeinschaft zu bilden. Es ist außerdem möglich, dass sich über eine solche Dyade einfach deshalb keine Aussage treffen lässt, weil der Beobachtungszeitraum zu kurz gewählt ist. Beispiel dafür wäre eine rein auf die Paarungszeit beschränkte Interaktion zwischen zwei Herdenmitgliedern.

2) Einseitige Beziehungen

 

Bei einseitigen one-way Beziehungen geht die Interaktionen immer von einem*einer der beiden Partner*innen der Dyade aus. Einer von beiden ist beispielsweise immer siegreich in Auseinandersetzungen oder dirigiert den*die andere*n nach seinen*ihren Wünschen. Solche one-way Beziehungen sieht man relativ häufig zwischen einem sozial sehr starken und einem sozial eher unsicheren Pferd, welches zur Orientierung eine*n „führende*n“ Partner*in sucht.

3)  Zweiseitige Beziehungen

 

Two-way Beziehungen sind in einer gewachsenen Herde mit durchschnittlicher Gruppengröße die häufigste Beziehungsart. Solche Beziehungen zeichnen sich durch wechselseitige Interaktionen aus, bei denen mal der*die eine, mal der*die andere die Initiative übernimmt oder siegreich aus einem Konflikt/Spiel hervortritt. Durch die Anzahl der Interaktionen und deren jeweiliger Ausgang können die Positionen der beiden Partner*innen dieser Dyade dann erfasst werden.

4) Unentschiedene Beziehungen

 

Bei unentschiedenen Beziehungen sind beide Partner*innen gleichstark. Sie interagieren wechselseitig miteinander und es ergibt sich aus der Beobachtung ein Gleichstand in Bezug auf den Sieg in diversen Konfliktsituationen oder ihrem Anteil an aktiven und passiven Verhaltensweisen beim Grooming oder bei spielerischen Aktivitäten.

Darstellungsform des Soziogramms

 

Trägt man nicht nur die agonistischen Verhaltensweisen und eine mögliche gegenseitige oder einseitige Ablehnung, sondern auch die entweder auf Gegenseitigkeit und einseitiger Wahl beruhenden freundschaftlichen Interaktionen der einzelnen Tiere zueinander gewissenhaft auf, so kann man nach und nach eine Darstellung der Gruppenstruktur vornehmen und dabei nicht nur das Beziehungsgeflecht verdeutlichen, sondern auch Führungspersönlichkeiten (früher auch als Alpha-Pferde bezeichnet) oder Randpersonen (früher auch als Omega-Tiere bezeichnet) identifizieren. Das Soziogramm offenbart die Ablehnung einzelner Herdenmitglieder ebenso wie den Grad der Integration. Ein besonders beliebtes und sozial wichtiges Pferd der Gruppe interagiert mit vielen oder gar allen anderen Herdenmitgliedern und eine Freundschaft beruht auf einer gegenseitigen Wahl innerhalb der Dyade. Die moderne Ethologie setzt den Fokus der Beziehungen innerhalb einer Pferdeherde also auf die soziale Stärke bzw. Aktivität der einzelnen Pferdepersönlichkeiten – also wer ist everybodies darling und wer eher die graue Maus.

Interpretation des Soziogramms

 

Bei der Darstellungsform eines Soziogramms werden die beliebtesten bzw. bedeutendsten Herdenmitglieder sofort deutlich: Auf sie sind die meisten Pfeile gerichtet. Auch Außenseiter*innen können direkt ausgemacht werden. Auf sie sind nur wenige oder gar keine Pfeile, die freundschaftliche Interaktionen symbolisieren, gerichtet. Trägt man im Soziogramm auch noch die verschiedenen Geschlechter und Altersstufen als unterschiedliche Symbole ein, so wird die Darstellung der Gruppenstruktur noch komplexer. So findet man durch die dargestellte Sympathie oder Ablehnung viele Hinweise auf die mögliche Gruppendynamik, Konfkliktfelder oder Risiken. So kann ein*e zum*zur Außenseiter*in mutierendes Pferd eventuell in einer anderen Gruppe besser aufgehoben sein, oder aber eine ständige Rivalität zweier Tiere rechtzeitig durch ein größeres Platzangebot entschärft werden.

Mehr über das spannende Thema Herdenstruktur im ethologischen Sinne:

 

LANGBEIN, J. und B. PUPPE (2004a): Analysing dominance relationships by sociometric methods – a plea for a more standardised and precise approach in farms animals. Appl. Anim. Behav. Sci. 87: 293- 315.

Die herzlichsten Grüße, Marlitt

Positive Verstärkung leben

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Marlitt Wendt

 

 

Ich bin Verhaltensbiologin und eine Pionierin auf dem Gebiet des Trainings mit positiver Verstärkung für Pferde. Das was zunächst als private Leidenschaft begann, ist seit fast 20 Jahren meine Berufung. Ich habe meinen Traum verwirklicht und durfte mein Wissen und meine Erfahrung als Autorin in vielen Sachbüchern und Fachartikeln veröffentlichen und als Dozentin auf Seminaren im gesamten deutschsprachigen Raum in der Praxis umsetzen. RPlus ist nun die Quintessenz meiner bisherigen Arbeit. Mit RPlus als Idee, positive Verstärkung in ihrer Gesamtheit darzustellen und den Grundgedanken des Gebens wirklich zu leben, veröffentliche ich hier lerntheoretische Inspirationen, meine eigenen Ausbildungskonzepte und persönliche Einblicke in meine Pferdewelt.

Conny Ranz

 

 

Ich bin Pferdefotografin und Grenzgängerin. Mit meiner Kamera bewege ich mich zwischen den Welten. Zwischen Tier und Mensch, zwischen Traum und Realität. Pferde ihrer Natur entsprechend in ihrer ganzen Persönlichkeit zu zeigen, begeistert mich damals wie heute. Dazu bin ich unter anderem europaweit auf den Spuren der Wildpferde unterwegs. Diese Begegnungen erwecken stets den Mut zur Freiheit in mir. Mit meinen Bildern durfte ich bereits an einigen Buchprojekten namhafter Verlage sowie in diversen Pferdemagazinen mitwirken. Vor allem aber verleihe ich damit unserem gemeinsamen Herzensprojekt RPlus aus vollster Überzeugung Flügel.

AUTHOR: Marlitt Wendt